NWRI – Am 21. Mai 2013 hat der Wächterrat 678 von den 686 zur Wahl des Präsidenten registrierten Kandidaten disqualifiziert. Nur die Kandidatur von acht der engsten Verbündeten Khameneis wurde zugelassen. Von den Disqualifizierten waren die bedeutendsten Esfandiar Rahim Mashai und Ali Akbar Hashemi Rafsanjani. Die Disqualifikation von 98,8 % der Kandidaten ist in der von der Velayat-e Faqih geleiteten „Demokratie“ ein ungewöhnlicher Akt. (Der durchschnittliche Prozentsatz der Zugelassenen betrug bei den zurückliegenden neun Präsidentenwahlen 1,5 %.)
Die Disqualifikation Esfandiar Rahim Mashais war vorhersehbar. Doch unerwartet war jene von Ali Akbar Hashemi Rafsanjani. Denn er war in der Zeit Khomeinis der zweite Mann im Staat. Er war
– neun Jahre lang Parlamentssprecher,
– während des Krieges Oberbefehlshaber,
– entscheidend dafür, daß Khamenei Khomeinis Nachfolger wurde (nach dessen Tod im Jahre 1989),
– acht Jahre lang Präsident,
– 24 Jahre lang Präsident des staatlichen Expertenrates,
– kontinuierliches Mitglied des Wächterrates und eine Zeit lang dessen Vorsitzender.
– Die Leiter der drei Zweige der Regierung und Mitglieder des Wächterrates sind Mitglieder des staatlichen Expertenrates, den Rafsanjani leitete.
Es ist sehr seltsam, daß der Wächterrat eine Person disqualifiziert, die der Leiter eines Gremiums ist, dem der Wächterrat selbst angehört – eine Person überdies, deren Mitgliedschaft von Khamenei noch vor zwei Monaten gebilligt worden war. Wie soll man den Widerspruch auflösen, daß diese Person nun auf einmal die Eignung für das Präsidentenamt nicht mehr besitzen soll – die Eignung zum Präsidenten, der selber Mitglied dieses Gremiums ist?
(Es ist, als erklärte man, eine Person eigne sich zwar zum Sprecher des Parlaments, aber nicht zu dessen einfachem Mitglied.)
Die Entscheidung über Rafsanjanis Kompetenz im Wächterrat
Der Wächterrat muß innerhalb der gesetzlichen Frist von fünf Tagen über die Kompetenz aller Kandidaten entscheiden; die Frist kann um weitere fünf Tage verlängert werden. Dieser Prozeß begann am 12. Mai; am Abend des 21. Mai wurden die Ergebnisse bekannt gegeben. Während dieser Zeit war die Entscheidung über Ali Akbar Hashemi Rafsanjani die wichtigste Angelegenheit des Wächterrates. Während der ersten vier Tage des Prozesses wurde die Kompetenz Rafsanjanis von einer Mehrheit (angeblich 7 : 5 Stimmen) anerkannt. Doch jene, die mit dieser Anerkennung nicht einverstanden waren, beharrten darauf, daß die Entscheidung wiederholt würde – m. a. W. darauf, daß Khameneis letzte Äußerung in der Sache besonders beachtet werden müsse. Bei der zweiten Abstimmung wurde Rafsanjani disqualifiziert – angeblich wegen zu hohen Alters. Es wurde erklärt, der Präsident sei – im Gegensatz zu dem des Expertenrates – an der Exekutive beteiligt; deren Pflichten seien für Rafsanjani angesichts seines hohen Alters zu belastend.
Im Auftrag Khameneis kam Mullah Sadeq Larijani, der Leiter der Justiz des Regimes, in Begleitung von Mullah Hassan Rohani mit Rafsanjani zusammen. Sie erklärten ihm, sie wünschten seine Kandidatur nicht und empfahlen ihm den Verzicht. Doch Rafsanjani stimmte nicht zu. Er sagte, das Volk habe ihn gebeten zu kandidieren, um die kritische Situation zu einer Lösung zu bringen. Er bekannte, er werde nicht durch einen Verzicht das Volk betrügen. Daher wurde die Disqualifizierung unvermeidlich.
Warum hat Khamenei Rafsanjani disqualifiziert?
Khamenei wird von ernsthaften Krisen heimgesucht, die zu seinem Sturz führen könnten. In der gegenwärtigen Lage wird die Präsidentenwahl zum focus aller Krisen. Khamenei sieht sich einer Gleichung mit mehreren Unbekannten ausgesetzt:
1. Sein Hauptproblem bei dieser Wahl war die Kandidatur Rafsanjanis und Ahmadinejads Unterstützung der Kandidatur Rahim Mashais.
2. Khameneis Strategie: Er betrachtet die Politik des Rückzuges (bei der keiner internen Gruppe gestattet wird, den Kurs der Innen- und Außenpolitik zu ändern) als die einzige Möglichkeit seines Establishments, sich zu behaupten; jede Ausdehnung des Establishments durch Aufnahme rivalisierender politischer Gruppen würde zu seinem Sturz führen.
3. Die rote Linie eines Aufstands: Ernsthaft befürchtet Khamenei einen weiteren Aufstand. Seine Einschätzung geht dahin, daß ein Aufstand, wenn er erst einmal begönne, sich von dem des Jahres 2009 gänzlich unterscheiden würde; er würde zu seinem Sturz führen. Daher kann er die Wahl-Gleichung nur durch Verhinderung eines Aufstandes lösen.
Khamenei hat alles getan, um Rafsanjanis Kandidatur zu verhindern; in der massivsten Offensive, die er vor der Wahl gegen ihn unternahm, versuchte er, ihn durch Androhung von Enthüllungen einzuschüchtern und von der Kandidatur abzubringen. Dennoch ließ er sich am Ende des 11. Mai 2013 als Kandidat registrieren.
Darnach erörtern Khamenei und sein think tank die Situation. Die Einschätzung prüfte folgende drei Möglichkeiten:
1 Hashemi wird disqualifiziert: Khamenei entrichtet den Preis und setzt Rafsanjani beiseite. Damit zerbricht er das Gleichgewicht dieses ebenso antagonistischen wie unzertrennlichen Paares. Damit wird die Kluft im Regime vertieft. Deshalb wird die Wahl selbst von Kräften des Establishments boykottiert und somit die Wahl-Show zerstört werden.
2 Hashemi wird zum Präsidenten gewählt. Die Rückzugspolitik wird durchkreuzt; das bedeutet, daß Khamenei den Giftbecher leeren muß. Er ist der Meinung, daß er, wenn er die Rückzugspolitik aufgeben muß, zumindest seine Position als Höchster Führer verlieren wird. Und darnach wird, so schätzt er die Verhältnisse ein, sein Establishment um so rascher gestürzt werden.
3 Hashemi wird nicht zum Präsidenten gewählt. Seine Kandidatur wird zwar zugelassen, doch als Sieger wird Khameneis Mann aus der Wahl hervorgehen (so ähnlich war es bei der Wahl 2005).
Diese Erfahrung wiederholte sich 2009 nicht. Als die Fraktion von Mousavi und Karroubi erklärte, die Wahl sei gefälscht, begann der Aufstand. Die Chance, daß sich das wiederholt, ist sehr groß, denn die Fraktion Rafsanjanis wird entschieden jegliche Wahlfälschung enthüllen. Das wird zum Aufstand führen – Khameneis rote Linie. Aufgrund dieser Einschätzung kam Khamenei zu dem Schluß, die klügste Option sei die Ausschaltung Rafsanjanis von der Wahl. Es sei besser, den gesamten Preis ein- für allemal zu zahlen als hernach jeden Tag. Wenn er sich an die Rückzugspolitik hält und dabei bleibt, den Beginn eines Aufstands als rote Linie anzusehen, dann liegt die einige Lösung in der Ausschaltung Rafsanjanis.
Dabei gibt es kein Gesetz, das für die Kandidatur zum Präsidentenamt eine Altersgrenze vorschreibt. Das neue Gesetz zur Wahl des Präsidenten, das vor einigen Monaten von der Majlis verabschiedet wurde, sah vor, der Präsident dürfe nicht älter als 75 Jahre sein, doch der Wächterrat erachtete diese Bestimmung als mit der Verfassung unvereinbar; sie wurde aus dem Gesetz gestrichen. (Damals glaubte der Wächterrat allerdings nicht, daß Rafsanjani kandidieren würde.)