Junge Kleriker bekommen bei der Zeremonie der Graduierung im Seminar in der Stadt Ghom ihre Turbane (Archivfoto)
Wer sich in den iranischen sozialen Medien auskennt, bemerkt einen zunehmenden Trend von Videoaufnahmen und Einträgen über einfache Leute, die sich auf der Straße gegen die Mullahs aussprechen, sie beleidigen und sogar Aggressionen zeigen. Ende Dezember wurde in der heiligen Stadt Ghom, der traditionellen Machtbasis der Kleriker, eine Frau in einem Video gezeigt, die zwei Kleriker angreift und ihnen ihre Turbane abreißt und darauf mit den Füßen stampft. Was in dieser Weise ins Netz gestellt wird, macht üblicherweise in verschiedenen Plattformen virusgleich die Runde und die Kommentare legen die die landesweite Stimmung offen.
Wegen der fehlenden Freiheit der Meinungsäußerung und der Beherrschung der konventionellen Medien durch den Staat, sind die Plattformen der sozialen Medien verlässlicher, weil sie gegen die systematische Propaganda immun sind, die verschiedene Geheimdienste des iranischen Regimes in die Außenwelt hinein füttern wollen. Auch sie wurden freilich nicht von der Cyber Armee, deren Personal in die Tausende geht, verschont. Aber wenigstens gibt es einen gewissen Schutz für den Benutzer der sich hinter verschiedenen Schichten von VPNs, anonymen Profilen und falschen Identitäten versteckt. So seltsam es erscheinen mag, es mag in den iranischen sozialen Medien mehr Wahrheit vorhanden sein und sie könnten zur Messung des sozialen Pegelstandes dienen.
Eiin e tapfere Frau zerrt einen lästigen Mullah an den Ohren
Aber alle, die als „professionell“ eingestuft werden wollen und die Wahrheit in den offiziellen Quellen suchen, können auch die neuesten Verlautbarungen der Autoritäten des Regimes und der Medien zur richtigen Schussfolgerung führen.
Die staatliche Zeitung Hamdeli („Sympathie“) schrieb am 15. Januar: „Die besorgniserregende Inflation und die Unfähigkeit, den Erwartungen der Menschen gerecht zu werden, auf der einen Seite und die Unzufriedenheit mit der Art, wie das Land verwaltet wird, auf der anderen Seite hat einige Studenten der religiösen Wissenschaften davon abgehalten, ihr Studium fortzusetzen und sich in den Seminarkursen einzuschreiben“.
„In den letzten Tagen haben zwei oder drei Lehrer und Administratoren und ebenso Autoritäten im Seminar von Ghom ihre Besorgnis geäußert über den Rückgang der Zahl der Anmeldungen für einige Seminare oder die Gleichgültigkeit der Studenten gegenüber der Art, wie das Land regiert wird“, fügte die Tageszeitung hinzu.
Laut der staatlichen Website Hamzah News äußerte sich Mohammad Alamzadeh Nouri, ein Fakultätsmitglied und offizieller Vertreter des Instituts für Islamische Wissenschaften und Kultur, so: „In der Vergangenheit war die Zahl neuer Rekruten für das Seminar schon niedrig und in diesen Jahren hat sie sich durch eine Reihe von Faktoren noch weiter vermindert. In jedem Jahr gehen mehr als eine Million junger Leute zur Universität, aber nur vier- oder fünftausend gehen ins Seminar. Es ist sehr unfair. Wir haben auch eine hohe Zahl von Abgängern unter den Studenten. Aber was einem am meisten das Herz bricht, wird im Allgemeinen übersehen und das ist die heimliche Abfallquote der Mitgliedschaft. Manche werden Kleriker, aber sie werden dann Anwälte für Tierrechte und manche verwandeln sich zu Managern für Kegel- und Billard-Clubs“.
Er fügte hinzu: „Manche Studenten fallen heimlich aus und sind nur Kleriker auf dem Papier. Sie scheren sich nicht wirklich um die Missionen des Seminars, sie sind nur welche, die statistisch mitzählen … Wir haben alle Arten von verborgenen Lecks. Zum Beispiel wird ein Student zuletzt Angestellter und arbeitet als Kleriker des Verwaltungszentrums“.
„Leider ist das Seminar zu sehr politisiert worden und die Regierung ist eine Art religiöse Regierung geworden“, meinte Mohammad Taghi Fazel Meybodi am Dienstag, dem 4. Januar, gegenüber der staatlichen Dideban. „Auf der anderen Seite sind die Kleriker auch in sensitiven Positionen, was der Grund dafür ist, dass die Menschen keine positive Meinung über die neuen Studenten haben, die in den Seminaren studieren“.
Er ergänzte: „Die Mullahs erscheinen in der Öffentlichkeit immer weniger im Kleriker Gewand. Viele Gelehrte, die auf den Markt oder in ihre Geschäfte gehen, versuchen, nicht im Kleriker Gewand zu gehen, weil die Menschen sie beleidigen oder beschimpfen. Heutzutage erscheint der Klerus weniger im Kleriker Gewand, um zu vermeiden, belästigt zu werden. Wenn ein Kleriker im Taxi sitzt, schimpfen die Leute auf ihn. Die Menschen machen den Klerus verantwortlich für alle ihre Probleme“.
Social media video shows an ordinary Iranian citizen standing up to a cleric on the street.
"You've been insulting the people for 40yrs!"
Bystanders also encourage the man.Iranians hate the mullahs and rightfully blame all their problems on them. pic.twitter.com/ZUbdmH1tH5
— Iran News Wire (@IranNW) January 19, 2022
Inzwischen werden Amtsträger mit niedrigerem Rang zunehmend deutlicher in ihren Warnungen der Teheraner Führung vor den Quellen dieses Hasses.
Am 21. Januar meinte Taghi Azad Armaki, ein staatstreuer Soziologe an der Universität von Teheran: „In den letzten sechs Monaten haben die Bewohner von Teheran vergleichsweise mehr psychologisch gelitten. Das politische System hat keinen Willen, soziale Krankheiten zu heilen“.
In seinem Interview mit der Website Jamaran sagte er weiter: „Unsere Situation ist nicht besser geworden, eher ist sie schlimmer geworden. Was ist auf landesweiter Ebene getan worden, um die Situation zu verbessern? Das einzige, was wir getan haben, ist, die Leute am Reden zu hindern“.
Am 18, Januar hat ein früherer Präsidentschaftskandidat, Mostafa Hashemitaba, in einem Interview mit den staatlichen Eghtesad („Wirtschafts“-) Nachrichten die Amtsinhaber des Regimes davor gewarnt, die soziale Unzufriedenheit in der Gesellschaft zu ignorieren. „Wenn die Leute das alles sehen, sagen sie: Das führt zu nichts und fangen an, zu protestieren. Daher ist am Horizont keine helle Zukunft zu erkennen und die verbreitete Armut und Verzweiflung haben extreme Seiteneffekte“, erklärte er.
„Während die Armut das Land plagt, streut jeder, der [provokative] Worte äußert, Salz in die Wunden der Bevölkerung. Dummes Zeug zu reden und weiterhin die elende wirtschaftliche Situation lächerlich zu machen, wird es sicher schwierig machen für die Amtsträger“.
Die staatliche Zeitung Jahan-e Sanat (Welt der Industrie“) kritisiert die vagen Versprechungen des Präsidenten des iranischen Regimes und schreibt am 20. Januar: „Die Wirtschaft des Iran durchläuft harte Zeiten. Schätzungen zufolge liegt die Inflation in diesem Jahr bei etwa 50 % und das Problem, mit dem wir es zu tun haben, wird „Populismus“ genannt. Das Versprechen, man werde eine Million Wohneinheiten im Jahr bauen, ist sehr schwierig materiell umzusetzen. Die Wirtschaft des Iran hat nicht viele Möglichkeiten, einen finalen Zusammenbruch zu verhindern“.
Am 20. Januar hat Javadi Amoli, ein regimetreuer Kleriker im Seminar von Ghom, in einem Treffen mit Akbar Kamidschani, dem Chef der Zentralbank des Regimes, geäußert: „Die Armut bricht den Leuten und diesem Volk das Rückgrat, sie werden nicht auf die Regierung hören“.
Um es auf den Punkt zu bringen, warnte er: „Manchmal können wirtschaftliche Probleme auch eine große Regierung zu Fall bringen“.