Friday, March 29, 2024
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Geheime Akten offenbaren grausamen Alltag im Irak

US-Armee erstmals Informationsquelle

Von Birgit Svensson
Bagdad – Mohammed Dhia steht an einer belebten Kreuzung im Bagdader Stadtteil Mansour und telefoniert. In dem Moment explodiert 500 Meter von ihm entfernt eine Bombe. Der 45-jährige Iraker erschrickt, sein Handy fällt ihm aus der Hand.

Dann geht alles sehr schnell. Vier Männer stürmen auf ihn zu, packen ihn, drehen ihm die Hände auf den Rücken, fesseln ihn, binden ihm die Augen zu und zerren ihn in ein Auto. Immer wieder beteuert er, dass er mit dem Anschlag nichts zu tun habe, lediglich mit der Redaktion telefonierte, für die er als Reporter arbeitet. 24 Stunden später wird er mit Augenbinde an derselben Kreuzung wieder abgesetzt, wo man ihn festgenommen hatte. Mohammed sagt, er habe noch Glück gehabt. Von Erzählungen anderer weiß er, dass in solchen Fällen nicht selten gefoltert und misshandelt wurde.

Was Mohammed widerfuhr, ist kein Einzelfall. Das dokumentieren die am Wochenende von Wikileaks veröffentlichten Protokolle der US-Armee nur zu deutlich. Besonders in den schlimmsten Terrorjahren 2006/2007 häuften sich derartige Ereignisse. Bei 18 Anschlägen täglich allein in Bagdad quollen die Gefängnisse über, die wenigen Polizeistationen reichten nicht aus, um die Festgenommenen ordnungsgemäß zu registrieren. Oft wurde kurzer Prozess gemacht und vermeintliche Verdächtige einfach erschossen. Das Chaos schien grenzenlos. Private Milizen kontrollierten immer größere Teile der irakischen Hauptstadt und führten eine eigene Justiz ein.

Die irakischen Sicherheitskräfte waren erst noch im Entstehen, nachdem US-Administrator Paul Bremer Armee und Polizei nach dem Einmarsch der Amerikaner aufgelöst hatte und neu rekrutiert werden musste. Die US-Soldaten agierten zeitweise nur noch aus der Luft, weil ihnen die Kontrolle am Boden völlig entglitten war. Aus dieser Zeit stammen die Videos mit den Apache-Helikoptern, die jetzt im Internet kursieren. Nicht selten wurde willkürlich auf Verdächtige geschossen. Ob die Schützen aus der Luft Angehörige der US-Armee waren oder der unzähligen privaten Sicherheitsfirmen, wie Blackwater, war selten auszumachen. Aus Angst zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, verließen viele Iraker, zumeist Frauen, oft monatelang ihr Haus nicht mehr. Die Geschäfte schlossen schon um 14 Uhr, Bagdad glich danach einer Geisterstadt.

Die fast 400.000 Wikileaks-Dokumente sind daher nichts Neues für die Iraker. Deren Inhalt bestimmte über lange Zeit ihren Alltag. Mit einem Unterschied: “Bisher haben nur wir Journalisten darüber berichtet”, kommentiert Mohammed die Veröffentlichung, “jetzt ist die US-Armee die Quelle”. Die Wikileaks-Enthüllungen dokumentieren, dass die Verantwortlichen im Irak sehr wohl von den Verfehlungen wussten. Entsprechend hart fiel die Kritik von Iraks noch amtierenden Premier Nuri al-Maliki an Wikileaks aus. Auch weil er selbst damals Ministerpräsident war.

(Quelle: Die Welt)